Von Schnitten und Strichen – zu den Werken von Jiang Shu
Die abstrakte Kunst von Jiang Shu hat sich auf den Erfahrungen einer Beschäftigung mit Kalligraphie entwickelt. In der chinesischen Kalligraphie ist der Bezug des scheinbar frei gesetzten Zeichens zur gegenständlichen Gestalt des Bezeichneten noch jenseits aller Abstrahierung lebendig. Aus dieser Darstellungstradition kommend mag die chinesische Künstlerin die abstrakte Kunst des Westens, der sie an ihrem neuen Wohnort in Deutschland nah ist, wesentlich mehr von Naturerlebnissen bestimmt erleben, als dies eine westliche Künstlerin tun würde.
Ihre Papierschnitte sind angeregt von der chinesischen Tradition, mit Bildern die früher mit Papier bespannten, heute verglasten Fenster der Wohnhäuser zu beleben. Die Formspuren, die Jiang Shu mit der Schere oder dem Messer im farbigen Karton hinterlässt, sind abstrakt-geometrischer Natur. Es ist jedoch keine starre, mathematische Geometrie, der sich die Künstlerin bedient, sondern eine belebte, „atmende“, deren wesentliche Aufgabe im Bild darin besteht, einen vitalen Rhythmus zu erzeugen. Manchmal mag man an einfache Gesänge denken, die die Arbeit auf dem Felde bei vielen Völkern begleiten und jenseits einer Erzählung vom Auf und Ab des Lebens, von Werden und Vergehen, von Sommer und Winter, Leid und Freude erzählen. Die entstehenden Kompositionen sind kein Blick mehr auf Natur, sondern ein Blick in die Natur hinein, in die Kräfte- und Energiesysteme, die sie konstituieren und in Bewegung halten.
Es liegt in der Natur der Technik des Papierschnitts, dass durch Herausschneiden eine Form-Grund-Beziehung entsteht. Spannend wird es, wenn die Ausschnitte nicht nur zu Form-Motiven werden, die vor dem Grund des stehen gebliebenen Papiers zu liegen scheinen, sondern Ausschnitte auch so angelegt sein können, dass das verbleibende Papier selbst zur Form und der Ausschnitt zum Grund wird.
Während sich die Schnitte im Werkstoff Papier in den früheren Arbeiten von Jiang Shu häufiger zu Formen, etwa Dreiecken, ergänzten, haben sie sich in den letzten Jahren auf linienartige Strukturen reduziert, mal schmaler, mal breiter, wie Bahnen, die von bewegten Körpern gezogen wurden. Die verbleibenden Stege zwischen den herausgeschnittenen Linien bilden sich dabei wiederum zu Linien aus, wodurch es zu einem belebenden Wechselspiel zwischen negativen und positiven Linien kommt. Während die Dreiecke noch als dargestellte Formmotive erlebbar waren, werden nun die Linien eher als Bewegungs-Bahnen, nicht aber als dargestellte Motive wahrgenommen.
Nur indirekt bestimmt die Künstlerin die Silhouette der Einzelformen und die Komposition ihrer Reihung auf der Bildfläche, da sie den Karton oft vor dem Schneiden mehrfach faltet. Als Resultat werden ihre herausgeschnittenen Formen an den Knick-Achsen gespiegelt, wodurch eine ausgewogene Spannung zwischen den regellosen, frei gesetzten Einschnitten und der regelhaften Spiegelung der Formen an den Symmetrieachsen entsteht.
Bei aller Einfachheit, Klarheit und Strenge sind Jiang Shus Arbeiten voller Poesie. Mit geringem Aufwand haucht die Künstlerin dem farbigen Karton Leben ein, öffnet ihn der Empfindungs- und Vorstellungswelt des Betrachters, ohne eine konkrete Geschichte zu erzählen.
Parallel neben den Papierarbeiten entstehen Werkreihen von Leinwand-Bildern, deren Kompositionen bestimmt sind vom Zusammenspiel von farbigem Grund und linearen Pinselstrukturen. Dabei variiert die Bewegungsspur des Pinsels zwischen meditativem Gleichklang gereihter Geraden, die die Bildfläche wie ein energetisches Flirren überziehen, bis zu ausdruckshaftem Pinselgestus, bei dem Formen von Lineaturen umfangen werden. Oft, wie um die Reihung ihrer persönlichen Pinselschrift zu stören, schreibt Jiang Shu dabei mit flüssiger Farbe auf die aufrecht stehende Leinwand, wobei die in zittrigen Bahnen herabfließenden Farbnasen die Formkürzel zu einer Art überlagernder Gitterstruktur verweben. Ähnlich wie in ihren Papierschnitten kommt es auch hier zu einem klugen Wechselspiel zwischen Form und Grund in der Interaktion von farblich unterschiedlicher Fläche und Lineatur.
Immer wieder vertraut Jiang Shu dabei der Kraft des Zufalls, tritt respektvoll zurück, um diesem großen Gestalter das Feld zu überlassen.
-Thomas Brandt
Ausstellung Buch- und Kunstkabinett Konrad Mönter, Meerbusch-Osterath am 29.04.2010
Auszug aus Rede „Jiang Shu – Papierschnitte“
Ich schaue weitere Papierarbeiten von Jiang Shu an. Unfarbig schwarze oder farbige Kartonstücke mit Aussparungen, mit Schere oder Messer eingeschnittene öffnungen der Fläche, die eine geformte Aussicht auf einen hinterlegten Karton erlauben. Die ausgeschnittene Form wird als Figur wahrgenommen, die verbleibende, perforierte Fläche als Grund. Aber auch der zwischen den Ausschnitten stehen gebliebene Karton kann zur Figur werden. Das ist ein altes, spannendes Thema: das Vexier-Spiel mit Figur und Grund, mit dem Wechsel von Getragen-Werden und Tragendem, mit Gemeintem und nicht Gemeintem. Das, was das Bild zu mehr macht als einer Addition von Flächenformen. Es lebt in unserer Wahrnehmung, weil es sich im Wahrnehmen wandelt, weil es das Wahrnehmen wandelt. Ich bin berührt, beseelt und erfreut über die kleinen Balladen, die ich zu sehen bekomme, auch von der Sicherheit, mit der Formerzählung und Kartonfarbigkeit zusammenklingen. Die Schnitte entstünden ehe unkalkuliert. Ihre Formgebung entwickle sich im Werkprozess selbst, entstehe auch aus der Handbewegung, die die Schere oder das Messer führe, und basiere weniger auf einem gesehenen oder vorgestellten Formrepertoire. Oft überrasche sie das Ergebnis selbst, denn zum Schneiden sei das Papier ja z.T. mehrfach geknickt. Dies verunmögliche eher, sich die Endform vorzustellen. Formbestimmend sei also mehr der Rhythmus des Schneidens, des Bestimmens der ‚outline‘. Der Zufall gehöre unbedingt zum Werkprozess. Er sei auch verantwortlich für die Störungen, die die Strukturen verlebendigen.
-Thomas Brandt
Excerpt of the speech „Jiang Shu – Papierschnitte“ translated in English
Jiang Shu’s works are pieces of card with cut-outs, black and white or coloured, the openings created with a knife or scissors to permit a view of the card behind. The cut- out is experienced as a figure, the remaining, perforated surface as the base. But the card between the cut-out areas can also become a figure. It is an ancient theme in art, full of tension, a game of deception between the shape and the background, between what is the carrier, and what is being carried, with what is intended and what is not intended, making the picture more than simply a succession of two-dimensional forms. It lives in the way we perceive it because it changes in our perception because it changes our perception. The little ballads that are so deftly presented move and inspire the observer and the way the expressiveness of the shapes harmonises with the colours of the card is playful and delightful. The forms emerge during the creative process, evolve and develop from the movement of the hand holding the knife or the scissors and are not based on an imagined concept or existing repertoire of forms. The artist herself is often surprised at the result because sometimes the card has to be folded again and again before it is cut. This makes it more difficult to predict how it will turn out. The rhythm of the cutting process, of creating the outline determines the shape. A crucial part of the creative process is left to chance. It is also responsible for the little irregularities which bring the structures to life.